Kapitel 1.1 - Das Schwerbehindertengesetz
Bevor wir uns dem Objekt der Begierde, dem Schwerbehindertenausweis, zuwenden,
machen wir eine Reise in die Entstehungsgeschichte des Sozialgesetzbuches und weiter
durch die Jahrzehnte seiner Veränderung. Dadurch wird das Beispiel des Menschen, dem
ein Bein fehlt, klarer.
Begonnen hat das Ganze schon 1789 mit einem Gesetz für »invalide« preußische Offiziere.
Offiziere hatten ein sehr hohes Ansehen in der Gesellschaft und verkörperten den
politischen Geist ihrer Zeit. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, also dem
Zwang gegebenenfalls ungewollt Körperteile oder Leben zu verlieren, kamen 1825 auch
andere Kriegsopfer in den Genuss einer Versorgung.
Das Wort »invalide« lässt sich anhand des Gegenteils »valide« im Zusammenhang mit
Soldaten und ihren Aufgaben leicht erklären. Unter Validierung versteht man den
Nachweis, dass etwas in der Praxis hält, was es in der Theorie verspricht. Wir sind jetzt
wieder bei unserem Menschen mit »ohne« Bein, der, nehmen wir einmal an, Soldat ist.
Theoretisch kann er natürlich noch alles. Die Validierung, die Qualitätsprüfung der Armee
in der Praxis, besteht er allerdings nicht. Also ist er ein »Invalide«, sozusagen unbrauchbar
in der Praxis.
Später wurde aus dem Invalidengesetz das Schwerbeschädigtengesetz und danach das
Schwerbehindertengesetz. Was anfangs für Offiziere, später für alle Kriegsopfer, galt, wurde
dann auf zivile Behinderte ausgeweitet. Nach den jeweiligen Weltkriegen gab es regen
Zulauf bei den Invaliden. Die Behörde vergrößerte sich in entsprechendem Maße. Nach dem
ersten Weltkrieg zwang man Arbeitgeber, einen bestimmten Prozentsatz invalider
Rückkehrer einzustellen. Man hatte nach dem ersten Weltkrieg natürlich nicht mit
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Millionen Opfern, die es zu »versorgen« galt, gerechnet.
Diese Historie verdeutlicht, dass man sich Invalidität, Schwerbeschädigung oder heute
Schwerbehinderung verdienen muss. Ursprünglich sollten Soldaten, die während der
Ausübung ihrer Pflicht »Schäden« zu beklagen hatten, Nachteilsausgleiche erhalten. Mit der
Aufnahme ziviler Nutznießer weitete sich der Kreis aus, während die eigentlichen
Nachteilsausgleichsempfänger des Ersten und Zweiten Weltkrieges immer weniger wurden.
Die Behörde wuchs trotzdem immer weiter. Weniger Kriegsopfer aber mehr Beamte! Ich
vermute, dass sich die Behörde derart vergrößert hatte, dass sie selbst eine neue Klientel für
ihre Berechtigung erfand. Wer lässt sich schon gern wegrationalisieren, nur weil es keine
Kriege mehr gibt, die Nachschub für die Grundlage der eigenen Existenz liefern. Das ist nur
eine Vermutung, aber eine solche mit Realitätsbezug.
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Durch die Namensänderung der Gesetze verwischten sich die Spuren. In der Beurteilung
der Vergabe einzelner »Merkzeichen« steckt jedoch auch heute noch etwas von den
ursprünglichen Ursachen für Invalidität, Schwerbeschädigung, Schwerbehinderung. Darauf
werde ich bei der Beschreibung der Merkzeichen näher eingehen. Die Beurteilung, ob Sie
schwerbehindert sind oder nicht, obliegt den Richtlinien des SGB IX, dessen verlängerte
Arme (Sachbearbeiter und medizinischer Dienst) zur Überprüfung der Eintrittsbedingungen
verpflichtet sind. Schwerbehinderung, Schwerbeschädigung, Invalidität ist somit ein
Qualitätsmerkmal, das von den Behörden, gestützt auf das SGB IX, verliehen wird, und zwar
in Form eines Ausweises. Man ist nicht schwerbehindert durch etwas, sondern man wird
schwerbehindert durch den Schwerbehindertenausweis nach dem Sozialgesetzbuch. Kein
Ausweis, keine Schwerbehinderung!
Die Historie des Schwerbehindertengesetzes
1789 Erste Gesetzesform „Preußisches Patent für die Versorgung
invalider Offiziere“
1825 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht „Preußisches
Militärpensions-Reglement“
1871 „Militärpensionsgesetz“
1906 „Mannschaftversorgungsgesetz“
1919 Nach dem 1. Weltkrieg wurden Arbeitgeber gezwungen, einen
bestimmten Prozentsatz Schwerbeschädigter einzustellen.
„Schwerbeschädigtenversorgungsgesetz“
1920 Urform des SGB IX „Schwerbeschädigtengesetz“ regelt die
Verwaltung der Rechte Schwerbeschädigter neben
dem „Reichsversorgungsgesetz (heute Bundesversorgungsgesetz)“
1923 Werden erstmals blinde und körperbehinderte Menschen
aufgenommen
1974 Die Folgen des Ersten und Zweiten Weltkriegs waren
weitestgehend behoben. So wurde das „Schwerbeschädigtengesetz“ zur
zivilen Nutzung ausgeweitet.
heute „Schwerbehindertengesetz“