Kapitel 5.2 - Aus dem Alltag der Ablehnungsurteile
Stören Sie sich nicht am Alter des Urteils, erinnern Sie sich an
die Historie.
Vorausgegangen ist auf Landesebene folgendes Urteil.
BSG-Urteil vom 10.12.2002 - Az.: B 9 SB 7/01R
1. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung setzt nicht voraus, dass
der Schwerbehinderte nahezu unfähig ist sich fortzubewegen.
2. Der Nachteilsausgleich »AG« steht zu, wenn sich ein Behinderter von
den ersten Schritten außerhalb seines PKW an entweder nur mit fremder
Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann.
3. Die Gehfähigkeit ist in ungewöhnlich hohem Maße z.B.
eingeschränkt, wenn sich der Kläger nur mit Gehstock und orthopädischen
Schuhen und auch dann nur noch schleppend, watschelnd, kleinschrittig
und deutlich verlangsamt fortbewegen kann. Es wird um einen Menschen
mit folgenden Behinderungen gestritten. Der Beklagte hat beim Kläger
wegen spastischer Beinlähmung mit operiertem Spitzklumpfuß,
Schwerhörigkeit beiderseits sowie Fehlstellung und Verschleißleiden der
Wirbelsäule eine Behinderung mit einem Grad von 100 festgestellt und
außerdem die gesundheitlichen Merkmale »erhebliche Beeinträchtigung der
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr« (Merkzeichen »G«),
»Notwendigkeit ständiger Begleitung« (Merkzeichen »B«) sowie die
gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der
Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen »RF«) anerkannt. Mit Bescheid
vom 21. Juli 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. August
1999 hat er es abgelehnt, darüber hinaus auch das gesundheitliche Merkmal
»außergewöhnliche Gehbehinderung« (Merkzeichen »AG«) festzustellen.
Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 31.
Mai 2000), das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die
Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 14. März 2001). Es hat -
im Wesentlichen - ausgeführt: Der Kläger gehöre nicht zu den in den
einschlägigen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften beispielhaft
aufgeführten Gruppen von Schwerbehinderten mit außergewöhnlicher
Gehbehinderung.
Demgegenüber sei ein - mindestens - auf das Doppelte eines nicht behinderten Menschen gesteigerter Energieaufwand beim Gehen - wie der Kläger es für sich behaupte - schon deshalb kein geeigneter Maßstab für die Feststellung des Merkmals "AG", weil es wissenschaftliche physiologische Untersuchungen zur exakten Beurteilung der beim Gehen aufgewendeten Energie nicht gebe. Da der Kläger nicht zu einer der in der Verwaltungsvorschrift (VV) beispielhaft aufgeführten Gruppen von schwerbehinderten Menschen gehört, kann er nach den Kriterien dieser Norm nur dann als außergewöhnlich gehbehindert angesehen werden, wenn er diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Für eine solche Gleichstellung hat der erkennende Senat inständiger Rechtsprechung den folgenden Maßstab entwickelt:
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II, 1 Satz 2 1. Halbsatz aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Im Einzelfall scheint es sich allerdings nur schwer entscheiden zu lassen, wann diese Forderung erfüllt ist. Denn bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen handelt es sich in Bezug auf ihr Gehvermögen offenbar nicht um einen homogenen Personenkreis. Es erscheint sogar möglich, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein mag (sodass diese nicht einmal als erheblich beeinträchtigt in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr <merkzeichen "g"=""> anzusehen wären). Solche Besonderheiten sind nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem beispielhaft aufgeführten Personenkreis richtet.
Denn entweder handelt es sich bei Personen, die zwar nach der Art
der Behinderung zu einer der aufgeführten Gruppen zählen, jedoch
tatsächlich die Voraussetzungen des Obersatzes (Bewegung außerhalb des
Kraftfahrzeuges nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung)
nicht erfüllen, um Ausnahmefälle. Anders als vom LSG angenommen, hat
der Senat die Zugangsschwelle zu "AG" damit nicht auf das Niveau
von Querschnittsgelähmten und in der VV genannter
gliedmaßenamputierter ohne orthopädische Versorgung angehoben, die -
mit den Worten des LSG - "nahezu fortbewegungsunfähig" sind. Eine solche
Forderung widerspräche sowohl der VV zur Straßenverkehrsordnung als
auch dem Sinn und Zweck des § 6 Abs. 1 Nr 14 StVG. Beide Vorschriften
richten sich an Schwerbehinderte mit "außergewöhnlicher
Gehbehinderung", fordern also nicht den vollständigen Verlust der
Gehfähigkeit, sondern lassen ein - ggf. erst durch orthopädische Versorgung
ermöglichtes - Restgehvermögen zu. Die Gehfähigkeit muss nur so stark
eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege
zu Fuß zurückzulegen (vgl. BT-Drucks 8/3150, S 10 in der Begründung zu §
6 StVG). Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich griffig
weder quantifizieren noch qualifizieren. Wie das LSG in der angegriffenen
Entscheidung unangegriffen und damit für den Senat bindend festgestellt
hat, gibt es keinen exakten
Beurteilungsmaßstab, um den berechtigen Personenkreis nach dem
gesteigerten Energieaufwand beim Gehen abzugrenzen.
Auch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugt dazu grundsätzlich
nicht. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat zwar die Wegefähigkeit im
Schwerbehindertenrecht (Merkzeichen "G") und im
Rentenversicherungsrecht (im Rahmen der Prüfung von
Erwerbsunfähigkeit) nach einer zumutbar noch zurücklegbaren Wegstrecke
von 2000 Metern in 30 Minuten bzw von 500 Metern in 7,5 Minuten
bestimmt (vgl BSGE 62, 273, 277 ff= SozR 3870 § 60 Nr 2 und BSG SozR 3-
2200 § 1247 Nr 10 sowie Majerski-Pahlen, MedSach 1995, 50).
Die Instanzgerichte haben im Anschluss daran versucht, mit 100
Metern zumutbarer Wegstrecke auch eine Grenze für "AG" zu markieren
(für den Ausschluss so noch Wegefähiger: LSG für das Saarland vom 6.
Februar 2001 - L 5b SB 67/99 - Juris, unter Berufung auf die
Rechtsprechung des LSG Rheinland-Pfalz; LSG Baden-Württemberg vom
15. März 2001 - L 11 SB 4527/00 - Juris; für Zuerkennung des Merkmals
"aG" bei so noch Wegefähigen: Thüringer LSG vom 14. März 2001 - L 5 SB
672/00 anhaltspunkte.de; LSG Berlin vom 9. Mai 1995 - L 13 Vs 23/94 -
Juris). Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen
jedoch nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter
Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen
kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch
möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer
Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten
außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den
entsprechenden Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterungen)
auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere
Wegstrecken zurücklegt.
Hier kann man die Problematik der Rechtsprechung losgelöst vom normalen
Menschenverstand nachlesen. Ohne auf dieses Beispiel näher einzugehen, hat der
Antragsteller schwerwiegende Fehler begangen, die ihn bis zum »BSG« getrieben haben.
Man hat ihm aufgrund seines Antrages unterstellt, man könne ja nicht beweisen, dass er
wirklich unzumutbar Kraft aufwenden muss, um sich außerhalb des Kraftfahrzeugs zu
bewegen, da die wissenschaftliche physiologische Beurteilung des »Doppelten« nicht
möglich ist.
Geht`s noch? Eine Institution, die sich Einteilungen in 10er Schritten oder nebulöse
Beurteilungskriterien wie »außergewöhnlich«, »ständig«, »unzumutbar« ausgedacht hat,
fordert vom Antragsteller, Otto Normalverbraucher, wissenschaftlich nachweisbare
Beschreibungen seines Anliegens. Das verlangen Mitarbeiter einer Sparte, die mit
mathematischer Logik so gar nichts zutun hat? Unter dem Niveau liegen nur noch Abgänger
von »Zeugen-Jehova-Universitäten«.
Ich darf mich aufregen. Ich habe meinen Ausweis. Sie nicht, Sie müssen nur wachsam sein.
Benutzen Sie nur Begriffe aus den Vorschriften.
Ein weiterer Knackpunkt ist das »ständig«, dass hier wahrscheinlich im Antrag bzw. den
Gutachten nicht extra ausgeführt war. Umkehrende Beweisführung. Von dem, was Sie nicht
geschrieben haben, behauptet man einfach, das Gegenteil träfe dann auf Sie zu.
Im weiteren Urteil wird nun trefflich über die Beweisbarkeit des Energieaufwands eines
Gehbehinderten wissenschaftlich fundiert gestritten. Da darf die
Vergleichsgruppendiskussion der Unterschenkelamputierten nicht fehlen. Es wird also über
Prothesentechnologie und darüber, dass man vielleicht die falsche Vergleichsgruppe
heranzieht, diskutiert. 2015 hat sich daran trotz »BSG« Diskussionen nichts geändert.
Selbst wenn Unterschenkelamputierte demnächst über das Wasser wandeln können, wird
diese sogenannte inkonsistente Gruppe der Maßstab bleiben. Man wird dann schlecht
verheilte Amputationsstümpfe mit ständig folgenden Teilamputationen nennen. Eine
Gruppe, die unglücklicherweise tatsächlich existiert, aber eine Sondergruppe der
Unterschenkelamputierten ist. Was das »LSG« (wie oben) nicht interessiert. Zu verlockend
ist die grandiose Möglichkeit der einfachen Ablehnung; auf das perfideste gesteigert, indem
man unserem jungen behinderten Mann anlastet, er habe ja Beine. Sie werden, wenn Sie
meine ärztlichen Begründungen lesen, denken: »Was ist daran nun besonders?« Es ist
entscheidend, dass alle wichtigen Rechtsfloskeln vorkommen, die eine Ablehnung schwer
machen.
So, nun kommen Sie mal langsam wieder herunter. Behalten Sie einen kühlen Kopf. Nach
der Lektüre dieses Ratgebers werden Sie die grundsätzlichen Fehler nicht mehr machen.
Regen Sie sich nicht über den Gesetzgeber auf! Sie müssen Ihre Kraft einteilen, denn Sie
sind behindert. Deshalb richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf den Quell des Übels, mit dem
sie konfrontiert werden, dem Sachbearbeiter. Er verdient Ihre ganze Aufmerksamkeit, denn
mit ihm beginnt alles. Mit ihm wenden sich Ihre Bemühungen in die eine oder andere
Richtung.
Sie sollten sich keine Gedanken über die Richter des »BSG« machen, die je nach Parteibuch
mal dran sind oder warten müssen. Die, wie die Richter beim »BVG«, eine politische
Karriere hatten und jahrelang einer Parteidisziplin unterlagen. Das prägt, das ist
Demokratie.
Judge balance from above on a dark slate plate, concept with ger - Maren Winter - fotolia
Ich persönlich lese »BSG« -Urteile, bevor ich einen Antrag stelle. Und Sie können das auch.
Nun zeige ich Ihnen die wichtigen Passagen des Urteils bunt markiert. Der Rest ist sinnloses
Geschwafel. Sie müssen definitiv nichts davon verstehen können. Sie vergleichen einfach
nur Worte. Anders machen es die Richter auch nicht, wenn sie es überhaupt selbst machen,
da sie Programme dafür haben, die Schwachsinnstexte automatisch erstellen.