Kapitel 6 - Der Antrag

Was in diesem Antragsformular steht, entscheidet häufig über Wohl und Wehe des Verlauf
des Verfahrens.
Deshalb nehmen wir uns den Antrag Stück für Stück vor. Hierzu beziehe ich mich auf den
Antrag, wie er im Bundesland NRW verwendet wird. Die Anträge sind von Bundesland zu
Bundesland unterschiedlich.

Es fängt ganz harmlos mit der Aufforderung an, sein Begehren anzukreuzen. Erstantrag
oder Änderungsantrag?
Mir kommt es darauf an, dass Sie lernen, zwischen den Zeilen zu lesen. Nach einem recht
unverfänglichen Beginn geht es direkt ans Eingemachte des Antragsbogens. Jetzt wird es
schon heikel!


»WICHTIGER HINWEIS«


Großbuchtstaben, wichtig, dann ein unterlegter Text. Selbst bei einem abgestumpften
Menschen sollten alle Sinne zur Vorsicht mahnen.
Warnhinweise oder Hinweise darauf, dass Sie unbedingt zu Ihrem Vorteil etwas freigeben
oder mit Ihrer Unterschrift bestätigen sollen, sind mit höchster Wachsamkeit, Vorsicht und
gesundem Mistrauen zu beurteilen. Ihnen wird sofort mit Paragrafen gedroht, in denen
auch Ihre Rechte enthalten sind, die hier aber verschwiegen werden.
Und man möchte wissen, ob sie erwerbstätig sind (ganz fett gedruckt). Warum das? Der
Sachbearbeiter kann es selbst nach einem lustigen Grillabend mit Druckbefüllung nicht
übersehen, auch wenn laut Gesetz die Gleichheit aller Bezugsberechtigten gewährleistet sein
muss. Hallo! Wer arbeitet, kriegt. Wer nicht arbeitet, ist kein Leistungsträger, kriegt ergo
nix?
Ach ja. An dieser Stelle sollte den Selbstständigen klar sein, dass Sie keine
Bezugsberechtigten sind.
Wir lernen, schwerbehindert kann nur sein, wer abhängig beschäftigt ist.
Wenn Sie irgendwie in die untere Gruppe fallen, lässt der Sachbearbeiter die Korken knallen
und Sie sind raus.
Behalten wir diesen Teil im Kopf und sehen uns das nächste Blatt an.

Die meisten von Ihnen müssen nun mit der Beschreibung der Gesundheitsstörungen unter
Punkt 5 auf Seite 3 weitermachen.


Und schon sehen wir wieder einen Hinweis. Unterlegt kommt die nächste Attacke daher.
Sie können selbst die Dauer des Verfahrens beeinflussen! Hallo! Soll das heißen, weil Ärzte
die Unterlagen nicht schnell genug zur Verfügung stellen, dauert ein Verfahren so lange?

Solange Sie die Unterlagen auf keinen Fall freigeben, können Sie oben ruhig angeben, wo
sich die Unterlagen befinden.

Wenn Sie auf Seite 4 Klinikaufenthalte angeben, sollten Sie den Inhalt des
Abschlussberichts genau kennen. Lesen Sie ihn unter dem Aspekt, dass alle ärztlichen
Unterlagen gegen Sie verwendet werden können. Sicherheit geht vor! Und hier nun das
Wichtigste, der Hinweis für ein gutes Antragsgelingen.


Nie eine generelle Schweigepflichtsentbindung unterschreiben.


Man hat sich viel Mühe gemacht, Sie auf diesen einen Punkt einzustimmen. Wenn Sie sich
das Antragsformular genau durchgelesen haben, fällt Ihnen auf, wie oft und eindringlich Sie
auf das Herausgeben der Unterlagen hingewiesen werden.
Das ist wie beim Kauf eines Gebrauchtwagens. Der Verkäufer schwärmt Ihnen von der
rasanten Optik vor und vergisst das riesige Loch unterm Beifahrersitz, das sich versteckt,
heimlich durch den Unterboden gefressen hat.
Durch dieses Loch werden Sie fallen, wenn Sie Unterlagen freigeben, von denen Sie nicht
völlig sicher sind, dass der medizinische Dienst Sie damit nicht dran kriegt.
Oben sehen Sie wieder den dringenden Appell. Dieses Mal steht nicht WICHTIG! im
Fettdruck sondern Hinweis!.
Für wie bekloppt halten die uns eigentlich? Und natürlich weist man uns darauf hin, dass
Unterlagen von Augen-, HNO-Ärzten und Krankenhäusern/Kurkliniken nicht gewünscht
sind. Sie könnten diese Unterlagen ja versehentlich gesehen haben, bevor man sie gegen
Ihren Antrag verwendet. Krankenhäuser und Kliniken sind perfekte Orte für Fehler in
Berichten. Ein Mekka für ablehnungswillige Sachbearbeiter. Also machen Sie es wie bei
allen Hinweisen: Sie tun das genau Gegenteil! Tappen Sie nicht in diese durchsichtige Falle.
Sie sehen, was Ihr Gegner anstellt, um Ihr Anliegen blitzschnell abzulehnen. Das geht in der
Regel wirklich schnell.

Sie lesen jetzt bitte den gesamten letzten Abschnitt ganz ruhig und ohne in Panik zu
geraten noch einmal, saugen jede Drohung einzeln in sich auf, dazu trinken Sie je nach
Geschmack einen trockenen Rotwein und klatschen sich vor Freude auf die Schenkel, wenn
Sie welche haben. Sie stellen sich bitte mit geschlossenen Augen den Sachbearbeiter vor, wie
er Ihren Antrag mit wutverzerrtem Gesicht in Augenschein nimmt. Wie er feststellt, dass er
mit Ihnen Arbeit haben wird. Die ganzen schönen "Ablehnungsformulierungen", fein
säuberlich sortiert, wie es sich für einen deutschen Beamten gehört, schiebt er zurück in den
riesigen Ablehnungsaktenschrank. Jetzt muss er sich mit den Unterlagen beschäftigen, die
Sie freigeben, die Sie belegt haben.
Ich schildere nun eine persönliche Erfahrung. Meine Unterlagen aus einer neurologischen
Klinik fanden auf Umwegen irgendwann zu mir. In einem Sprachenmix aus ein wenig
Deutsch und einer für mich nicht geläufigen Sprache befanden sich merkwürdige Dinge in
meinen Unterlagen, die ich nicht mehr los wurde. Sie kennen das? Gut! Das sind die
Schreiben, auf die der Sachbearbeiter wartet. Deshalb droht man Ihnen gleich auf der ersten
Seite.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich war ja auch ein Opfer und landete vor Gericht. Vor dem LSG
wurde der Satz des Anstoßes aus den Unterlagen vorgelesen. In einem Abschlussbericht
einer Reha Einrichtung stand:


"Herr Rippe könne 50m ohne Hülfsmüttel..."


Der MD freute sich und verweigerte mir die persönliche Begutachtung rigoros. Was in dem
Satz »Herr Rippe könne 50m ohne Hülfsmüttel« entscheidend war, war nicht der Umstand,
dass die Ärztin kein deutsch konnte, sondern die Zahl 50. Damals tauchte immer 50 auf, die
heutige Kassenlage hat die 50 in eine 30 verwandelt. Ob ich mit 49,5m eine bessere Aussicht
gehabt hätte, sei dahingestellt. Ob die Ärztin verstand, was Sie schrieb, – sie verwechselte
den Rehabeginn mit dem Rehaende – werde ich nie erfahren. Den Gebrauch der deutschen
Umlaute kann man nicht jedem zumuten, das verstehe ich, aber was die Ärztin schrieb,
waren nicht einmal zuhängende Sätze. Vor dem Landesgericht war die Vertreterin des
Landes NRW genauso peinlich berührt wie die Richterin. So schloß man das Verfahren,
bevor es richtig angefangen hatte. Erst vor dem Landesgericht nach drei Jahren wurde dem
Wahnsinn des Sachbearbeiters ein Ende bereitet. Ich bekam das Merkzeichen "AG"
zugesprochen.


Sie besorgen sich über Ihren Arzt des Vertrauens die Unterlagen, sichten sie, untersuchen
sie auf Fehler und suchen Anhaltspunkte, die dem Ablehnungsprofi nutzen, und danach
geben sie die Unterlagen frei oder eben nicht.
Besser noch, Sie gehen die einzelnen Punkte Ihrer Unterlagen mit dem Arzt durch und
suchen nach Ablehnungsfallen. Z.B. falsche Angaben in Klinik- oder Rehaberichten,
medizinische Meinungen, mit denen Sie nicht übereinstimmen. Also alles, was Ihnen
gefährlich werden kann. Und dann geben Sie Ihren Arzt des Vertrauens als einzige Quelle
an. Der gibt dann nur das weiter, was Sie ihm erlaubt haben.
Nur mal rein hypothetisch. Sie haben Berichte aus Krankenhäusern, Kliniken und von
Fachärzten. Alles läuft bei Ihrem Hausarzt zusammen. In der gesamten Kette sind alle der
Überzeugung: Sie haben das Anrecht auf eine Schwerbehinderung des Grades "X" mit dem
Merkzeichen "X". Dann kommt der "Medizinische Dienst" und stellt etwas anderes fest.
Wozu gibt es den MD überhaupt, fragen Sie sich vielleicht? Der Staat, also wir alle, müssen
uns gegen Schmarotzer verteidigen. Das ist doch offensichtlich. Die Antragstellenden
müssen ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen, die ihnen aus Sicht der Behörden
grundsätzlich erst einmal abgesprochen wird. Die Überprüfung übernimmt der
"Medizinische Dienst". Jetzt werden sie denken: Da sitzen aber doch auch Ärzte! Ja,
teilweise ist das so. Aber es gibt überall solche und solche. Es gibt hochbezahlte gute
Handwerker, die ihr Fach verstehen. Es gibt Stümper, die sich beim Versuch eine
Waschmaschine zu reparieren, an Werkzeugen verletzen. Facharbeiter ist nicht gleich
Facharbeiter.
Sie sind nun ausreichend gewarnt und sehen Ihren Antrag mit ganz anderen Augen.

Keine Schweigepflichtentbindung geben.
Gesonderte Erklärung abgeben.
Unterlagen nur über den Arzt Ihres Vertrauens
freigeben.
Unterlagen nur nach Sichtung freigeben.
Fachmann zu Rate ziehen.

Sie wissen jetzt, dass die Drohung mit der langen Bearbeitungszeit, weil Sie nicht alles
unterschreiben, das viel zitierte Loch unter dem Sitz eines Autos ist. Der Autoverkäufer
hatte es nicht erwähnt. Der MD ist nicht Ihr Gutachter. Der MD ist das
Inkassounternehmen des Staates. Da stehen morgens mit einem Mal osteuropäisch
anmutende, groß gewachsene Männer mit langen Narben auf den Wangen vor Ihrer Tür
und fordern Ihren Autoschlüssel und die Papiere. Dann erinnern Sie sich an den
Autoverkäufer, der Ihnen versicherte, dass das mit den Raten kein Problem sein wird für
Sie.


Eine Begutachtung beim MD entspricht in etwa der Befragung eines Soldaten durch den
Vorgesetzten.
Den Bediensteten des MD gegenüberzutreten, empfiehlt sich nur bedingt und dann gut
vorbereitet. Das heißt, die Aktenlage muss das Begehr ausreichend dokumentieren. Denn
dann wird auch nach Aktenlage entschieden. Am liebsten wird nach Aktenlage entschieden,
wenn darin ein Anhaltspunkt für eine Ablehnung gefunden wird. Wie bei mir persönlich
geschehen. Das können Sie verhindern, wenn Sie Gutachten vom Facharzt - auch wenn sie
Geld kosten können - dem Antrag hinzufügen.
Ich musste, weil die Ärztin in der Rehaklinik versehentlich den Beginn der Reha mit dem

Der Medizinische Dienst ist der
Erfüllungsgehilfe des Sachbearbeiters

Ende verwechselt hatte, bis vor das Sozialgericht für das Merkzeichen AG ziehen. Ich war
damals rollstuhlpflichtig und gehunfähig. Das interessierte den MD wenig. Seine Aufgabe
war zur vollsten Zufriedenheit des Auftraggebers erfüllt. Mich beim MD vorzustellen
verweigerte man mit dem Hinweis auf die Aktenlage. Die Antragstellung war so lange her,
dass man den nun vorhandene Gesundheitszustand für das Verfahren vor Gericht nicht
mehr verwenden wollte.


Abgelehnt!


Der Vorteil eines Gutachtens, das Sie selbst bezahlen, besteht darin, dass die Angaben eines
Facharztes über Ihre Behinderung schwerlich von einem Arzt irgendeines Fachgebietes vom
MD in Zweifel gezogen werden können.
Vor Gericht bekam ich sofort Recht, nur hatte es bis dahin fast zwei Jahre gedauert. Das lag
definitiv nicht daran, dass meine Ärzte so langsam gearbeitet hatten. Die Zeit, die es Sie
kostet, wenn etwas ablehnungswürdiges in Ihren Unterlagen steht, geht weit über das Maß
dessen hinaus, was Sie erwartet, wenn Sie nicht den Anweisungen der Freigabe aller
Unterlagen Folge leisten.
Sie haben also einen Bericht eines Spezialisten der Neurologie mit ausgesprochener

Der MD-Arzt kann völlig fachfremd sein.
Gutachten erstellen auch MD-Sachbearbeiter
mit medizinischem Hintergrund.

Fachkompetenz bezüglich Ihres Krankheitsbildes vorgelegt. Diesen Bericht begutachtet nun
ein Arzt, der nie irgendwo in der Realität gearbeitet hat und dessen Fachgebiet vielleicht im
Studium "Innere Medizin" war. Sie lassen doch auch nicht von einem Bäcker Ihr Auto
reparieren. Wobei ein Bäcker das nach deutschem Handwerksrecht auch nicht darf. Ein Arzt
des MD für innere Medizin darf selbstverständlich Ihre neurologischen Schäden
begutachten, auch wenn er kein Neurologe ist. Weil es sich um einen Verfahrensakt handelt,
darf er das. Er behandelt Sie ja nicht. Er arbeitet nicht einmal für Sie.


Deshalb weist man sie daraufhin, dass die Kosten für Berichte und Gutachten nur
übernommen werden, wenn Sie von der zuständigen Stelle beauftragt wurden. Ich würde
auch nicht für ein Gutachten bezahlen, das nicht in meinem Sinne ausgeführt wird.
Wem wird man vor Gericht glauben? Wird man dem Bäcker, der Ihnen von einem
turnusmäßigen Ölwechsel abgeraten hat, glauben oder dem Werkstattmeister einer
Vertragswerkstatt?
Leider hat nicht jeder Facharzt Ahnung vom Verwaltungsrecht. Deshalb sollten Sie, wenn es
Ihnen möglich ist, den Text für das Gutachten vorformulieren. Besser noch ist die Hilfe
eines Verbandes. Wie schon erwähnt sind z.B. VDK und Sozialverband gut geeignet.
Dennoch empfehle ich, auch hier alles gegenzulesen und mit meinen Hinweisen,
Vorschlägen und Tipps zu vergleichen. Es geht um Sie. Sie sind Antragsteller. Niemand
anderes steht für die eingereichten Daten gerade. Sie unterschreiben den Antrag. Viele
unbedarfte Behindertenanwärter befinden sich in gutem Glauben an die Institution, wenn
sie ihren Antrag stellen. Sie wissen nun, dass das Verfahren dazu dient, Ihren Antrag nach
allen Regeln der Kunst auseinanderzunehmen. Sie stehen Ablehnungsprofis gegenüber.
Mit dem neuerlichen Wissen wenden wir uns nun endgültig dem Fall des jungen Mannes
zu,den ich schon mehrfach erwähnt habe. Schauen Sie sich das Schreiben an und erkennen
Sie die Verbindung zwischen ärztlichen Feststellungen und dem Bezug
von Nachteilsausgleichen.


So oder ähnlich sieht ein Schreiben, des Arztes Ihres Vertrauens aus.

Bei Herrn ... liegt seit seiner Geburt ein Hirnschaden mit
schwerer Leistungsbeeinträchtigung, ausgelöst durch ...,
vor. Durch die ... ist weiterhin ein schwere psychische
Störung die Folge der ... In der Öffentlichkeit ist mein
Patient ... auf permanente Hilfe angewiesen. Die
Antragsteller, hier die Eltern als bestellte Betreuer,
übernehmen weitestgehend die Begleitung und Aufsicht
über Herrn ... Das hirnorganische Leiden verursacht
zerebralbedingte spastische Lähmungen der Gliedmaßen,
die eine außergewöhnliche Gehbehinderung außerhalb
eines Kraftfahrzeugs bedingen. Die psychische
Beeinträchtigung trägt ihr Übriges dazu bei. Ohne
fremde Hilfe ist die Bewegung im öffentlichen
Straßenverkehr nicht möglich. Die Bewilligung des
Merkzeichens AG halte ich für geboten.

Es ist mit wenig Aufwand für Ihren Arzt verbunden, den oben von Ihnen vorbereiteten Text,
mit dem entsprechenden medizinischen Material zu unterfüttern. Das Ganze sollte Sie
zwischen 10 € - 20 € kosten. Allerdings kann es schnell etwas teurer werden, wenn mehr
Aufwand notwendig wird. Fragen Sie Ihren Arzt.
Die Unterlagen, die Ihr Arzt hinzufügt, werden von Ihnen auf sogenannte
Ablehnungsbegriffe gegengelesen. So wird weder der Sachbearbeiter noch sein verlängerter
Arm, der MD, genügend Argumente für eine Ablehnung finden. Es ist die Aufgabe des
Sachbearbeiters, nach diesen Gründen zu suchen. Sie sagen sich vielleicht: Ist das nicht das
Gleiche, als wenn er nach Gründen für die Bewilligung sucht?


Nein!


Genau das wiederhole ich in jedem Abschnitt. Es ist eine Frage der Grundannahme und der
Kassenlage. Ablehnung bedeutet Fleißkärtchen mit Stern für den Sachbearbeiter.
Bewilligung hingegen führt, je nach Kassenlage, zu einem Teufelchen in der
Arbeitsbeurteilung.
Bitte beachten Sie, dass sich die Kriterien häufig ändern, wie ich es schon mehrfach
ansprach. Deshalb haben die 30 Meter und der Vergleich mit der Gruppe der
Unterschenkelamputierten nur zum Zeitpunkt der Erstellung des Ratgebers Aktualität. Es
ist ein Beispiel unter vielen, das Ihnen verdeutlichen soll, wie das grundsätzliche Vorgehen
aussehen muss.
Sie haben nun fast alles getan, um erfolgreich zu sein. Nun setzen Sie ein Schreiben zur
Probe auf, in dem Sie genau die Begriffe wählen, die zur Bewilligung notwendig sind. Sie
werden nicht darüber berichten, wie schwer es Ihnen fällt, die Tür eines PKW zu öffnen
oder, dass Sie beim Gang in die Stadt nachher erst ein Nickerchen machen müssen. Sie
erwähnen nicht die nächsten zwei Tage, die Sie wegen Überlastung im Bett liegen. Das ist
in einer Kaffee-und-Kuchen-Runde vielleicht interessant, aber nicht für die Antragstellung.
Kein Mensch interessiert sich dafür, wie Sie sich fühlen.


Ich weiß, dass Sie sich und anderen immer wieder zu erklären versuchen, wie sie sich
fühlen, wie anstrengend ein Leben mit Behinderung ist. Sie glauben sich auf einer
Standspur zu befinden, während die anderen auf der sechsspurigen Autobahn an Ihnen
vorbeirasen.
Sobald Sie sich in diese Denkweise begeben, haben Sie vor dem Sachbearbeiter verloren. Sie
werden angreifbar. Den Staat interessieren im Verfahren aufgenommene Sachverhalte.
Diese Sachverhalte müssen Sie erfüllen; Punkt. Noch eine Stufe härter ist die
Pflegebeurteilung. Da empfiehlt es sich, einen Kurs wie beim Militär zu belegen. Sie kennen
doch die Hollywoodstreifen, in denen Marines im Busch von bösen Menschen mit bösen
fremden Gesichtern festgehalten werden. Sie werden gefoltert, um ihr Land zu verraten und
sie schweigen. Sie nennen nur Ihre Einheit und Ihren Namen. Sie müssen der John Rambo
unter den Pflegeanwärtern werden.

Im Umgang mit der zuständigen Stelle gilt:
Schweigen
ist
Gold

Das sollten Sie sich immer vor Augen führen, wenn Sie Ihrem Gegner ins Auge blicken. Aber
Pflege ist ja ein anderes Thema. Die Vorbereitung zum Pflegegrad ist deutlich aufwendiger.


Hier ein weiteres Beispiel aus der Welt der Ablehnungen:


Sie sind Diabetiker und müssen Insulin spritzen. Gern wird der GdB von Diabetikern
zwischen 20% - 40% einsortiert. Sie müssen Ihren Blutzuckerspiegel mehrmals täglich
kontrollieren.
Ich kenne ein paar Diabetiker persönlich. Diese Erkrankung ist sehr häufig. Für den Antrag
auf Nachteilsausgleiche bedeutet das: Es wird teuer.
Leider haben unsere Sachbearbeiter für Sie, ja ganz speziell Sie, den Text für die Ablehnung
schon auf Abruf im Rechner. Diabetes?

Abgelehnt!

Sie führen ein Spritzenbuch und notieren die 5-mal
täglich vorgenommen Injektionen.
Lassen Sie sich die Hypoglykämien, einhergehend mit
Bewusstseinsverlusten, nach dem Aufschlagen auf
dem Asphalt von Zeugen bestätigen.
Ihr Stoffwechsel ist nicht stabil.
Der Tagesablauf ist außergewöhnlich stark gestört.
Sie lassen sich vom Arzt einen Bericht anfertigen,
der dies alles bestätigt.

Sie selbst zweifeln daran, dass Sie Anspruch haben. Wenn Ihr Blutzucker gut eingestellt ist,
geht es Ihnen gut? Vergessen Sie diese Selbsteinschätzung. Wer will schon behindert sein!?
Wenn Sie über Ihr Leben nachdenken, wissen Sie, dass die Diabetes den Takt vorgibt. Sie
sind insulinpflichtig und jede Missachtung der Regel bedeutet eine potenzielle Ohnmacht.
Es bedeutet, dass Ihr Arbeitgeber wieder den Notarzt rufen muss. Sie stehen dann immer
lächelnd wieder auf und sagen: Ist schon gut, alles ok!


Merken Sie, wie weit Sie von einer objektiven Beurteilung Ihrer Lage entfernt sind? Sie
leben mit Ihrer Behinderung. Sie wollen Sie nicht. Und es geht Ihnen ja auch meist gut.
Erkennen Sie, was für ein willfähriges Opfer des Sachbearbeiters Sie sind? So einen wie Sie
verfrühstückt er bei einer Tasse Kaffee. Und danach gibt es wieder Fleißpunkte.
Damit ist jetzt Schluss. Die Hälfte der Bevölkerung bekommt schon Schweißperlen auf die
Stirn, wenn sie nur an Spritzen denkt. Ich habe jahrelang gespritzt. Subkutan und in den
Muskel. Das nervt. Sie sind dennoch eine gute Arbeitskraft. Vielleicht kann Ihr Arbeitgeber
aber nicht gut mit der Situation umgehen. Viele Menschen haben Berührungsängste mit
kranken, behinderten Menschen.
Meinen Sie nicht, dass der Schutz, den der Sozialstaat eingerichtet hat, nicht ganz genau auf
Sie zutrifft? Na also! Sie werden einen GdB 50 bekommen. Das steht Ihnen zu.


Hier also das Schreiben für einen Diabetiker:

Bei meiner Patientin, Frau ... liegt seit eine schwere
Diabetes Typ ... vor. Meine Patientin wird dauerhaft seit
dieser Zeit in meiner Praxis behandelt und eingestellt. Es
treten immer wieder Hypoglykämien (Unterzuckerungen) auf,
die ärztliche Hilfe erfordern. Meine Patientin muss
mindestens 5-mal am Tag ihren Blutzuckerspiegel messen.
Unter der Insulintherapie ergibt sich trotzdem eine
instabile Stoffwechsellage, der wir mit den genannten
häufigen Messungen entgegentreten.
Meine Patientin ist durch die Krankheitslage und ihre
vielfältigen Auswirkungen so eingeschränkt, dass ein GdB
von 50 anzunehmen ist.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass sich die Kriterien häufig
ändern.

Sie können natürlich zum Standardantrag ein ausführliches persönliches Statement
hinzufügen. Vielleicht haben Sie einen Sachbearbeiter, der noch unerfahren ist, dem die
Abhärtung fehlt. In diesem Fall kann man mit der Darstellung des Leidens ein paar
Pluspünktchen herausholen. Es besteht aber auch die Gefahr, dass der Sachbearbeiter
angeödet von den ewigen Mitleidsschreiben, genau entgegengesetzt reagiert. Sicher sind Sie
nur, wenn Sie sich auf rein sachliche, unwiderlegbare Argumente verlassen.


Jetzt verstehen Sie auch die Geschichte aus dem Prolog. Wenn ich ein Patent haben möchte,
muss ich die Vorgaben des Patentverfahrens erfüllen. Das hat nichts mit dem Wert der
Erfindung zu tun. Der Wert ist uninteressant. Gleiches gilt für das »Behindert-werden«. Der
Ausweis bestätigt, dass Sie behindert sind, dann haben Sie es geschafft. Der Schrecken, das
Dilemma, die gesellschaftlichen negativeren Konsequenzen müssen Sie mit oder ohne
»SBA« tragen. Mit ist es allerdings angenehmer.


Um herauszufinden, ob eine vermeintliche Erfindung ein Patent werden kann, kann man
eine Patentrecherche machen. Das ist aufwendig und sehr kostenintensiv. Deshalb lässt
man es das Patentamt tun. Man reicht seine Ideen ein (Patentanwalt formuliert) und lässt
das Amt prüfen. Danach entkräftet man die Entgegenhaltungen.


Genauso werden Sie es mit dem Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis tun. Nur
werden Sie den Zugriff auf alle Daten verweigern. Sie werden die Daten kontrolliert zur
Verfügung stellen, die Ihre Behinderung dokumentieren. Das ist Ihr gutes Recht. Sie
bestimmen, was der Sachbearbeiter benutzen darf und was nicht. Sie sind am Drücker.
Wenn Sie dann eine Ablehnung bekommen, machen Sie von Ihrem Recht auf Akteneinsicht
gebrauch und entkräften die Gründe für die Ablehnung mit links. Der Spielraum für den
Sachbearbeiter verringert sich dadurch ungemein. Sie sind ihm immer einen Schritt voraus.
Er weiß, dass Sie nicht einfach abgespeist werden können.


Wissen ist Macht.


Der Widerspruch wird in der ersten Instanz gewährt und Sie bekommen Ihre
Nachteilsausgleiche. Je häufiger Ihr Name auf dem Tisch des Sachbearbeiters landet, umso
stärker muss der Bewilligungsreflex werden.
Die Alarmsirenen werden erklingen und durch die muffigen Büros hallen. Angezickt wird
man stöhnen:

Boa!
Nä!
Der/die schon wieder!