Schmerzmedikamente/Antikonvulsivum/Analgetikum

1.  Was ist Schmerz überhaupt?

An dieser Stelle des Fachbuchs kommen wir zu einem extrem sensiblen Thema. Zu den Medikamenten gegen Schmerzen bei Multipler Sklerose.

 

Die Weltschmerzorganisation „International Association for the Study of Pain (IASP)“ definiert Schmerz als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird."[1]

 

Der Punkt ist hier sicher die Gewebeschädigung. Was ist, wenn das Gewebe ganz woanders geschädigt ist, als dort, wo der Schmerz auftritt? Bei MS tut unser Bein weh wie verrückt. Dabei ist es organisch völlig intakt. Dann gehst du zum Arzt und sagst, dass dir das Bein wehtut. Der antwortet dann ganz bestimmt nicht: »Ihre Pyramidenbahn hat einen Defekt!«

Dummerweise ist irgendetwas mit der Nervenleitung zum Bein nicht in Ordnung. Entweder im Gehirn oder irgendwo auf dem Weg durch das zentrale Nervensystem ist etwas nicht ganz koscher. Wie passt das zu den Gewebeschäden, die doch ganz woanders sind, auf keinen Fall aber im Bereich des schmerzenden Beines?

 

2.  Heißt „psychosomatisch“ Einbildung?

Was ist mit den sogenannten psychosomatischen Schmerzen? Hier wird der Zusammenhang zwischen Psyche und Körper beschrieben. Dieser Zusammenhang ist so alt wie die Medizin selbst. Für uns, und da werdet ihr mir sicher beipflichten, ist psychosomatisch alles, was uns der Neurologe vermitteln will, wenn er sagt: »Ich weiß nicht, was du hast, aber das ist bestimmt psychosomatisch!« Übersetzt will er damit wohl ausdrücken: »Das bildest du dir alles nur ein.«

 

Der Clou ist ja, selbst wenn etwas nur eingebildet ist, also von unserer Psyche ausgelöst wird, entstehen ganz reale Schmerzen. Andersherum, also der körperliche Schmerz wirkt auf den Geist ein, ist es für die Medizin klar und eindeutig. Das nennt sich dann somatopsychisch und ist jedem total einsichtig. Hast du eine schwere Krankheit, die nie wieder weggeht, leidet auch deine Psyche (Seele).

Liest du dir nun noch einmal den ersten Satz durch, wie die IASP Schmerzen definiert, fällt schon auf, dass der Körper geschädigt sein muss. Aber reiten wir darauf nicht weiter herum. Auch psychosomatisch bedeutet krank zu sein.

Wie sollen aber dann die Medikamente wirken? Was müssen die machen, damit der Schmerz nachlässt? Haue ich mir mit dem Hammer auf den Finger, schmerzt es. Der Schmerz lässt langsam nach. Alles wieder gut. Der Schmerz hat uns nur sagen wollen: »Hau nicht mit dem Hammer auf deinen Finger, sondern auf den Nagel!«

Schmerz ist nun einmal Schmerz! Basta! Da hilft es nicht zu sagen: »Stell dich nicht so an!«, denn wir wissen ja überhaupt nicht, wie es sich für den anderen anfühlt. Und was ist, wenn ich keinen Schmerz fühlen könnte?

Ganz einfach. Ich würde mir ständig auf den Finger hauen, bis er abfällt! Das ist nicht gut und nicht somatopsychisch. Man könnte auch sagen: »Du hast nichts dazugelernt!«

 

3.  Unerträglich, extrem, wahnsinnig, ...

»Wie groß ist der Schmerz auf einer Skala von 1-10?«, fragt der Neurologe oder Psychologe. Was meint der damit? Ist zehn Minuten auf einem offenen Zahnnerv zu bohren eine 10? Ist eine mehrfach gerissene Knochenhaut schlimmer oder weniger schlimm, als das Bohren auf einem Zahnnerven?

Dem Betroffenen fehlt einfach der Maßstab. Das ist ein Problem. Sein Schmerz, besonders wenn der Schmerz ganz neu ist, ist subjektiv immer am stärksten. Nehmen wir an, der Schmerz verschwindet nach einiger Zeit. Dann gehen wir zum Arzt und der erklärt uns: »Der Schmerz kann jederzeit wiederkommen.« Die Angst davor, dass das Unangenehme wiederkommt, sorgt dann dafür, dass wir den gleichen Schmerz nun als unerträglich empfinden, obwohl sich die Rahmenbedingungen objektiv nicht verändert haben.

Je nach Schmerztoleranz empfindet jeder Schmerz anders und wir werden nie herausfinden, wie der Schmerz eines anderen im Vergleich zu unserem eigenen Schmerz ist. Trotzdem steht der Neurologe vor dem Problem, etwas verschreibenzu müssen!

Da wir nun herausgefunden haben, dass die Beschreibung von Schmerz lediglich ausdrückt, dass wir bei einer außenstehenden Person etwas bewirken möchten; beispielsweise Medikamente bekommen, Mitleid oder Aufmerksamkeit erregen,  sollten wir den Schmerzbeschreibungen anderer mit Vorsicht begegnen. Wenn jemand auf Facebook von unglaublichen Brennschmerzen spricht, was könnten wir ihm dann raten? Reicht es zu sagen, dass man auch ganz schlimme Schmerzen hat. Möchte der/die Postende das hören? Andere geben gleich einmal Tipps für Schmerzmedikamente. Andere versuchen, Mitleid zu zeigen und zu äußern.

 

Schmerz ist laut IASP also eine unangenehme Sinneswahrnehmung. Das hört sich nicht so schlimm an. Saure Milch ist auch sehr unangenehm, wenn man sie aus Versehen trinkt. Für einen Sozialphobiker könnte dieses Ereignis sogar lebensbedrohlich werden, wir spucken die Milch einfach aus und nehmen ein neues Glas. Der Phobiker erstickt womöglich.

Die Wertung „unangenehm“ ist sehr zurückhaltend; zu recht! „Wie fühlt sich das an?“, „Ist es links stärker als rechts?“ oder „Fühlt es sich normal an?“ sind die Fragen, die  schon jeder MS-Betroffene beim Neurologen beantworten musste.

Wie soll man solche Fragen beantworten, wenn man schon ewig nicht mehr weiß, was normal sein könnte? Und da kommen wir zu einem wichtigen Punkt. Schmerzen können chronisch werden, also bleiben und uns tagtäglich ärgern. Das sollte man aus medizinischer Sicht auf jeden Fall verhindern. Offenbar gerät unsere Schmerzverarbeitung im Gehirn dann durcheinander. Was ist zu tun?

 

4.  Antikonvulsivum

Da haben wir nun eine Wirkstoffgruppe, die gern bei MS-Schmerzen von Neurologen verschrieben wird. Also schauen wir mal, was das griechische Wort übersetzt heißt. Meist steckt schon im Namen verborgen, gegen was ein Medikament entwickelt wurde. Anti heißt gegen, das ist klar. Konvulsiv bedeutet Anfall; genauer Krampfanfall!

 

Ich soll also etwas gegen einen Krampfanfall bekommen? Ja genau! Diese Wirkstoffgruppe wird auch Antiepileptika genannt.

Gabapentin, Pregabalin und Carbamazepin sind auch zur Therapie neuralgischer Schmerzen, letzteres auch zur Behandlung manischer Depressionen zugelassen.[2]

 

Manische Depression? Was hat das alles mit meinen Schmerzen zu tun? Da kommen wir nun endlich zum entscheidenden Punkt. Wenn sich jemand mit Heroin abgeschossen hat, kann man ihm wahrscheinlich einen Arm amputieren, während er noch über den letzten Scherz lacht. Schmerzmittel stoppen Schmerz, aber sie verändern nicht den Grund für den Schmerz. Viele MSler haben schon mit Medikamenten aus dieser Gruppe Bekanntschaft gemacht. Deshalb ist es schon interessant zu wissen, dass die gesamte Gruppe nichts mit MS zu tun hat bzw. als Mittel gegen Epilepsie entwickelt wurde.

 

Und dies verdeutlicht uns wieder einmal, dass MS zwar der Grund für unterschiedliche Symptome ist, die Symptome selbst aber bei ganz vielen neurologischen Erkrankungen auftreten. Interessant ist auch, dass die Nebenwirkungen der Antikonvulsiva einigen anderen MS-Symptomen sehr ähneln. Und wenn man liest, dass manische Depression auf dem Waschzettel steht, kommt man schon ins Grübeln, oder?

Heißt das, wir bilden uns unsere Schmerzen doch nur ein? Antidepressiva wirken in geringer Dosierung häufig beruhigend. Aber was ist meinen Schmerzen? Ich muss nicht beruhigt werden? Ich will etwas gegen Schmerzen! Und genau das gibt es nicht! Man wird beruhigt und irgendwann ist man so ruhig, dass man auch keine Schmerzen mehr spürt.

 

Dieses Phönomen zeigt uns, wie eng verflochten psychische und somatische (körperliche) Erkrankungen des Nervensystems sind. An dieser Stelle sei auf die besondere Wirkung von Plazebos und deren Effekt hingewiesen. Dr. Joe Dispenza hat einem seiner populärwissenschaftlichen Bücher den Titel »Du bist das Plazebo« gegeben. Der Titel drückt viel von dem aus, was bei einer  mit Schmerzen verbundenen MS helfen könnte. Antikonvulsiva machen uns dumpf im Kopf! Sie beeinflussen ganz grundsätzlich unsere Wahrnehmung. Können wir unsere Wahrnehmung nicht selbst beeinflussen? Ja, das können wir. Ablenkung beispielsweise ist ein probates Mittel.

 

4.1  Was Ablenkung bewirken kann!

Ein Beispiel wozu Ablenkung fähig ist.

Ein Mensch mit langjähriger MS soll während der Reha im Bewegungsbad die paar Schritte quer durch das Becken meistern. Seine schwere Rumpfataxie führt dazu, dass er schwankend immer wieder anhalten muss. Dann soll er die Strecke gehen und dabei mit zwei Bällen jonglieren. Natürlich hält er den Therapeuten für total bescheuert. Und er kann gar nicht jonglieren. So fallen ihm die Bälle auf dem Weg auch mehrmals runter. Dennoch schwankt er nicht und kann die gesamte Strecke ohne Probleme gehen.

Wunderheilung durch Jonglieren?

Das Beispiel zeigt, wie sehr unsere Wahrnehmung den gesamten Körperablauf beeinflusst. In dem Moment wo die Konzentration vollständig auf den Bällen ruht, kann der Mann, der sonst kaum einen Schritt tun kann, ohne umzufallen im Wasser gehen.

 

Wenn wir eine Aufgabe meistern wollen, die uns schwer erscheint, konzentrieren wir uns besonders auf sie. Wir haben im Kopf Versagensangst. Wir rufen Erfahrungswerte ab, die sagen: »Das kann ich nicht.« Jonglieren kann der Mann noch viel weniger und Erfahrung hat er auch nicht damit, dadurch werden alle nachteiligen Effekte auf das Gehen ausgeschaltet. Unser Körper geht einfach von selbst und das funktioniert immer noch besser, als wenn wir auf falsche Sinneswahrnehmungen hören. Diese Methode ist zudem ganz ohne Nebenwirkungen zu machen. Es können einem lediglich die Jonglierbälle auf die Füße fallen. Wobei das Wasser den geschützten Raum darstellt, also auch kein Unfall passieren kann.

 

Medikamente machen nichts andres, außer dass sie nicht gezielt, sondern auf unser gesamtes System wirken. Sie stumpfen uns ab, trüben unsere Wahrnehmung und setzen auf Reizunterdrückung. Ablenkung, solange wir sie selbst inszenieren, hat keine Nebenwirkungen. Alle Medikamente, die dies tun, haben starke Nebenwirkungen, ja, sie können sogar neue, ungewollte Symptome begünstigen.

 

5.  Analgetikum

Analgetikum bedeutet Schmerzmittel. Opioide sind allgemein bekannt. Besonders wegen ihrer abhängig machenden Wirkung, ist diese Gruppe mit Vorsicht zu genießen. Besonderer Beliebtheit erfreut sich seit vielen Jahren Oxycodon, das in Amerika ein richtiger Kassenschlager war.

 

2010 lag Oxycontin, das seit den 1990er Jahren aggressiv beworben worden war, in den Vereinigten Staaten auf Platz fünf der umsatzstärksten Medikamente. Der Umsatz betrug über 3,5 Mrd. US-Dollar.[3]

 

In jedem zweiten amerikanischen Film wirft irgendein Protagonist »Oxy«, wie dieses Präparat unter Junkies heißt, ein. »Dr. House« eine amerikanische Serie, in der Hugh Laurie einen tablettenabhängigen Misanthrop (Menschenfeind) verkörpert, der fortwährend Hydrocodon (Vicudin) einwirft, ist ein Beispiel für dieses Genre. Die wirklich wirkenden Medikamente, so lernen wir, fallen allesamt unter das Betäubungsmittelgesetz. Was bleibt dann für MSler mit ausgeprägter Schmerzsymptomatik?

 


Cannabinoide sind gerade dabei, eine Freigabe durch den Gesetzgeber zu bekommen. Nachdem Pharmaunternehmen mit Milliardenumsätzen Menschen in die Abhängigkeit getrieben haben, wird Cannabis (Joint, Weeds, Hasch) nun in besonderen Fällen für den Konsum in Deutschland freigegeben. Das frei verfügbare verschreibungspflichtige Cannabisöl (CBD, Cannabidiol, Sativex) kostet ein Vermögen und erfreut die Pharmawelt.

 

Es soll antispastisch wirken, also entspannend. Bei starker Muskelverspannung ist die Wirkung eher zweifelhaft. Bei gefühlter Verkrampfung (eine Vorstufe der Spastik) soll es Betroffenen, laut einiger Berichte im Netz, jedopch helfen.

THC (Tetrahydrocannabinol) wird aus der Blüte der Cannabis(Hanf)pflanze) gewonnen und hat scherzlindernde, entkrampfende sowie beruhigende Wirkung. Wie auch bei den oben aufgeführten Blockbustern der Pharmabranche macht es die Dosierung, denn auch THC hat berauschende Wirkung, wie alle Schmerzmedis, die wirken. Schmerzlinderung und Entspannung tritt schon bei sehr geringer Dosierung ein. Über mögliche Abhängigkeit und Rauschwirkung möchten wir hier nicht spekulieren.

 

Die beste Ablenkung ist jedenfalls das Eintauchen in eine Scheinwelt, aus der man irgendwann nicht mehr heraus möchte, wenn in der Realität Schmerz und Krampf warten. Wenn man intensiv Computerspiele betreibt, hat das ein ähnliches Suchtpotenzial wie Drogen. Auch hier lenkt es uns vom Leben ab. Also müssen wir etwas finden, dass uns von den Schmerzen ablenkt, gesund ist und nicht abhängig macht. Deshalb sollte sich derjenige, der mit Cannabis liebäugelt, genau überlegen, ob er von der verbotenen Frucht naschen möchte oder nicht.

 

Schmerzen sind weder vermittelbar, erklärbar noch zweifelsfrei in ihrer Auswirkung diagnostizierbar. Sie sind lediglich Gefühle, die in unserem Gehirn ganz unterschiedliche Wirkungen verursachen. „Welche Schmerzen haben Sie auf einer Skala von 1-10?“, was für eine bescheuerte Frage!

 

6.  Tipps

Die Entscheidung, Schmerzmedikamente zu nehmen, sollte man ganz genau überdenken. Neurologen können nur Medikamente empfehlen!

Der Beipackzettel sollte genau gelesen  und gegebenenfalls mit dem Neurologen besprochen werden.

Schmerzmedikamente ändern an den Ursachen der Schmerzen nichts; im Gegenteil!

Setze dich mit deinem Körper auseinander! Verstehe ihn!

Begegne dem Schmerz nicht mit Angst, das verstärkt ihn und setzt deine Reizschwelle herab.

Versuche Sport als Ablenkung gegen Schmerzen zu praktizieren. Besonders Ausdauersport sorgt für Ablenkung und kann sogar die Ursachen für den Schmerz bekämpfen.

Entspannungstherapie ist ein probates Mittel gegen Schmerzen.

Versuche mit der geringstmöglichen Dosis klarzukommen.

Cannabis ist und bleibt eine Droge!

 

Einzelnachweis

[1]   http://schmerzliga.de/was_ist_schmerz.html

[2]   https://de.wikipedia.org/wiki/Antikonvulsivum

[3]   https://de.wikipedia.org/wiki/Oxycodon