Spastik
Spastik [1]heißt einfach nur Verkrampfung!
Heute rufen sich Jugendliche untereinander „Du Opfer!“ oder auch gern mal: „Du bist behindert!“ zu. Der Dauerbrenner unter den Beleidigungen ist aber immer noch „Du Spast!“. Früher garnierte man das Wort mit einem i am Ende, also Spasti! Wen wundert es da, dass die Spastik zu den unbeliebtesten Symptomen direkt nach der Ataxie gehört. In den sozialen Netzwerken ist die Frage „Ist das Spastik, wenn ... ?“ sehr verbreitet.
Wenn sich etwas schwer anfühlt, aber noch beweglich ist, kann man schon von Spastik sprechen. Da Gefühle immer relativ sind, ist die Grenze zwischen ein bisschen verkrampft und spastisch fließend. Wie erkenne ich denn nun eine Spastik?
Das sieht schon schwer nach Spastik aus.Arme hochgezogen = Rumpfspastik. Hände unnatürlich abgespreizt = Handspastik, eventuell Gesichtsspastik! Vielleicht ist der Typ aber auch nur ein Rapper im roten Schlumpf. Man weiß es nicht.
Bei diesem Herrn, den wir mit seinem Therapeuten beim unattraktiven Knete-kneten beobachten, sind hingegen keine Fragen offen. Welcher erwachsene Mann spielt schon freiwillig unter Beobachtung mit Knete?
Die Hände sind zu Beginn der Erkrankung selten betroffen. Schwere Beine kennen im Gegensatz dazu die meisten Betroffenen; einschließlich der Frischlinge.
Kommen wir zur Erklärung von Spastik.
Stellen wir uns unsere betroffenen Muskeln, wie einen Bogen zum Pfeile-verschießen vor. Wenn wir den Bogen voll spannen, muss man behutsam vorgehen, will man den Bogen wieder entspannen, ohne den Pfeil herauszukatapultieren. Je kleiner die Strecke, die unter Spannung steht, umso schwieriger das Entspannen.
Ein weiteres Dilemma verstärkt das Problem zusätzlich. Unsere Spastik sucht die betroffenen Muskeln so wahllos aus, wie wir „Löcher im Kopf“ haben. Je feiner die Bewegungen, desto unangenehmer die Spastik. Es ist nun so weit, dass wir noch einmal auf den Rapper mit seiner typischen Fingerstellung eingehen müssen. Finger nach unten drücken bedeutet, dass wir den unteren Unterarmmuskel anspannen. Finger nach oben strecken heißt, dass wir den oberen Unterarmmuskel anspannen.
In aller Regel möchte die Hand eine Faust machen, also ist dann der obere Muskel angespannt. Vielleicht versteht jetzt der ein oder andere, warum das Tippen auf einer Tastatur so anstrengend sein kann. Bei den Beinen sind häufig die unteren Oberschenkelmuskeln betroffen. Gern auch die Innen- und Außenseiten des Oberschenkels.
Warum wir das so genau beschreiben, fragt ihr euch? Das ist einfach zu beantworten. Es ist von wesentlicher Bedeutung, den eigenen Körper und seine Funktionsweisen bis ins Detail zu kennen. Nur so könnt ihr selbst etwas tun, was eure Situatiuon verbessert. Nun kommen wir zu dem Risiko, das Spastik immer in sich trägt, nämlich Lähmung (Parese).
Wir sprechen von spastischer und schlaffer Lähmung. Zum Glück ist die spastische Lähmung deutlich häufiger. Allerdings kann in ein und demselben Körper beides auftreten, beispielsweise links und rechts unterschiedlich.
Wenn die spastische Lähmung sehr stark ausgeprägt ist, können Betroffene häufig nur noch unter voller Muskelspannung stehen. Um aufzustehen müssen wir die Beine beugen. Das funktioniert bei sogenannter Streckspastik nur schwer bis gar nicht. Bei schlaffer Lähmung kann bei schweren Verläufen das Stehen gänzlich unmöglich werden. Aber das ist eher selten. Oft spielen Willenskraft und -stärke eine erhebliche Rolle.
Was kann man nun gegen Spastik tun? Manch ein Therapeut glaubt, dass Spastik im Kopf beginnt. Und damit sind keine Läsionen im Gehirn gemeint, sondern die mentale Einstellung. Wenn man weiß, was Spastik befeuert, dann weiß man auch, was zu tun ist. Kommen wir nun zum ersten und wichtigsten Punkt. Es gibt nichts, was Spastik mehr verschlimmert als Bewegungsarmut. Die Konsequenz daraus ist klar: Bewegung, Bewegung, Bewegung!
»Ich kann mich nicht in das Liegerad setzen. Ich habe Spastik!« Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört! Wäre es nicht viel logischer, mich zu fragen:»Sag mal, du hattest doch auch so starke Spastik, wie zum Henker bist du in das Liegerad hineingekommen?«
Die Antwort würde sicher nicht jedem gefallen. Aber zu sagen, dass man Spastik habe und deshalb nicht einsteigen könne, ist natürlich Schwachsinn. Wer es nicht probiert hat, kann es nicht wissen!
Es kann schon mal etwas dauern, bis man drin ist, in dem Liegerad und fahren kann man dann noch lange nicht. Aber überhaupt hineinzukommen, kann ein wunderbar motivierender Moment sein. Dummerweise musst du auch wieder aussteigen. Und lasst euch sagen, das ist noch viel schwerer. Deshalb sollten Erstversuche nie ohne Begleitung erfolgen. Wer schon einmal stundenlang im Regen vor der geschlossenen Garage gesessen hat, weiß, wovon ich rede. Egal was euch andere erzählen, Ärzte, Spezialisten, MSler, es gibt keine unüberwindlichen Hürden. »Was du nicht probierst, kann auch nicht gelingen!«
Das bringt uns zu Punkt zwei auf der Liste der Spastik verschlimmernden Faktoren. Es ist deine Einstellung. Entspannung musst du üben. Im Kopf darfst du nicht verkrampfen. Nicht hastig irgendwelche Bewegungen machen; Druck nicht zulassen. Allein die Vorstellung davon, dass du morgen früh wieder 5 Minuten brauchst, um aus dem Bett zu kommen, führt zu Spastik im Kopf! Und die geht sofort in die Beine.
Gibt es nichts dagegen? Klar gibt es was. Die Pharmaindustrie hat jede Menge im Köcher. Neuerdings ist auch Hanf im Gespräch. Da das alles individuell einzusetzen ist und euer Neuro euch beraten muss, konzentrieren wir uns hier darauf, was ihr selbst tun könnt (und müsst). Und die Medis machen euch noch müder, noch schlaffer, noch kaputter. Allerdings könnte die unangenehme Spastik weg sein.
Bewegung, Entspannung, Körperlichkeit üben und daran glauben, die Macht über die eigenen Bewegungen wiedererlangen zu können, sind das Erfolgsrezept. Das sagt der so einfach, denkt sich der eine oder andere. Aber niemand sagt, dass das einfach ist! Niemand sagt, wie lange es dauert! Niemand sagt, dass man jemals fertig sein wird!
Wem das zu anstrengend ist, der muss sitzen bleiben und Medis einwerfen. Die Spastik wird dadurch allerdings immer schlimmer. Dann wird die Medikamentendosis erhöht. Schmerzen kommen an Stellen, die mit der Spastik nichts zu tun haben, da der Körper in eine Schonhaltung übergeht. Ruckzuck ist der morgendliche Medikamentencocktail wieder um ein paar Tabletten reicher! So kann man es Stück für Stück bis zu einer Baclofenpumpe im Rücken bringen. Die Verläufe, bei denen es sinnvoll ist, den Zustand unter allen Umständen mittels Medikamenten zu lindern, gibt es natürlich. Sie sind aber selten. Überwiegend beginnt der Prozess schleichend. Nach einem Schub bleibt etwas zurück. Der nächste Schub verschlimmert die Situation. Und so schreitet die Entwicklung fort. Wer da sitzen bleibt, hat sein Schicksal selbst besiegelt.
Um eine neue Verbindung im Gehirn zu erzeugen und einen Bewegungsablauf zu automatisieren, benötigt man angeblich einhunderttausend Wiederholungen. Das ist kein Zuckerschlecken. „Also Leute! Fangt jetzt an! Und seid sicher, ihr werdet euch besser fühlen!“
Tipps
- Runde flüssige Bewegungen ohne übermäßige Kraftanstrengung (am Anfang evtl. bewegen lassen).
- Physiotherapie bis zum Abwinken.
- Ergotherapie bis die Schwarte kracht.
- Autogenes Training
Die Reihe der Tipps kann man beliebig fortführen. Nichts kann so gut durch Gymnastik behandelt werden wie die Spastik!
Wer etwas über die Funktion von Motoneuronen und Pyramidenbahnzeichen wissen will, kann bei WIKIPEDIA nachschauen. Wer nach einem Schub seine MRT-Bilder rauskramt und die Spastik sucht, wird garantiert nicht fündig. Spastik beginnt im Kopf.