Parästhesien

  1. Es hat sie jeder!

Wenn es ein Symptom gibt, das allen an MS erkrankten Menschen gemein ist, dann ist das sicherlich die Parästhesie. Einfacher ausgedrückt, handelt es sich hier um Empfindungsstörungen oder Missempfindungen.

Genau so häufig, wie dieses Symptom auftritt,  wird es auch von Ärzten kleingeredet. Dabei wissen doch viele, die dies jetzt lesen, wie sehr uns Empfindungsstörungen jeglicher Art zu schaffen machen.

 

  1. Beispiele

Es ist nicht ganz einfach, Beispiele für ein eindeutiges Erscheinungsbild zu finden, das jeder gleich wahrnimmt und deshalb nachvollziehen kann. Ja, wir behaupten sogar, dass es unmöglich ist.

Jedem fallen Vergleiche ein wie »Ameisenlaufen«. Aber fühlt es sich wirklich so an? Und wem sind denn – seid mal ehrlich – schon tausende Ameisen über den Körper gelaufen, außer man wird für eine bekloppte Reality-Show mit Geld zum Experiment gezwungen?

Noch schlimmer ist aber, dass ein Gesunder, ob Arzt oder nicht, zwar sofort sagt: »Wie schrecklich!«, dennoch keine Ahnung hat, wie es sich anfühlen könnte. Taub, wattig, wie in Handschuhen, brennend wie Feuer, eisig, heiß, wie Nadelstiche.

Es macht überhaupt keinen Sinn, diese Liste weiter fortzuführen. Jedem würde ein anderer Vergleich zu etwas einfallen, was auch wieder jeder anders empfinden würde.

 

  1. Das Fühlen an sich.

Wenn ich einen Mückenstich habe, käme ich nicht im Traum darauf, mich zu kratzen. Ich kann das Jucken ausblenden. Zu lange haben mich die MS-typischen Parästhesien gequält, als dass mich ein (für mich) lächerlicher Mückenstich zum Kratzen animieren könnte.

 

Alle Sinne, die uns zur Verfügung stehen, stellen  einen Vergleich an und signalisieren uns über die Nervenbahnen, wie groß der Unterschied ist. Kalt ist somit weniger als unsere Körpertemperatur, warm ist höher als unsere Körpertemperatur. Den Vergleichsstandard, wenn man es so nennen möchte, bildet unser Grundzustand, also wir selbst. Nur wie bei jedem Standard üblich, den wir aus Technik und Wissenschaft kennen, muss auch unser »Normalzustand« nachjustiert werden. Das passiert z.B. ganz langsam mit dem Altern.

 

Für uns ist es jedoch ein abrupter schneller Vorgang. Das stellt uns vor eine Aufgabe, der nur wenige gewachsen sind. Denn wenn wir die permanenten Empfindungsstörungen ohne die üblichen Chemiekeulen ertragen wollen, muss unser Normalzustand nachreguliert werden. Gerade zu Beginn der Erkrankung ist das extrem schwer. Gelassenheit und Mitte finden, predigen uns dann Neuros und Psychologen.

 

  1. Neuerkranktendilemma

Das im letzten Absatz Beschriebene stellt „Frischlinge“ vor eine schier unlösbare Aufgabe. Das Ungewisse nach einer Diagnose, die MS lautet, führt dazu, dass wir unsere Sinne schärfen. Wir sind so konstruiert, dass wir auf bedrohliche Änderungen in unserem Empfinden mit besonderer Aufmerksamkeit und Sensibilität reagieren.

Während die erste Massage ein besonderes, häufig nie wieder erlebtes Wohlbefinden auslöst, das uns entspannen lässt, bewirken Missempfindungen bei der MS genau das Gegenteil: Anspannung undStress. Die Nerven sind gespannt wie die Saiten einer Geige.

 

In diesem Zustand werden die Parästhesien besonders intensiv wahrgenommen.

»Mach dir mal keine Sorgen, dass muss ja nicht so schlimm werden!«

Diese beruhigende Aussage, ob von Ärzten oder Familienangehörigen, verfehlt eigentlich immer ihr angestrebtes Ziel. Es ist unmöglich, sich keine Sorgen zu machen! Diejenigen die gerade ihre Diagnose bekommen haben und dies jetzt lesen, erfahren zumindest, dass sie nicht allein sind und es allen MSlern zunächst so ging oder geht wie ihnen.

 

  1. Die Zeit heilt alle Wunden

»Da gewöhnt man sich schon dran!« Nein, die Zeit heilt nicht automatisch alle Wunden und man gewöhnt sich auch nicht einfach an einen Körper, der seine Empfindungsmöglichkeiten vollständig verändert hat.

»Der Mensch gewöhnt sich an alles!« Richtig müsste es heißen: »Der Mensch kann sich an alles gewöhnen!«

Wir haben die wunderbare Gabe bekommen, unseren Normalzustand selbst justieren zu können. Diese Gabe bedarf aber intensiver Auseinandersetzung mit sich selbst und der jeweils veränderten und damit neuen Situation.

 

Wir haben zwei Möglichkeiten. Die erste ist die Medizin, die versucht, den alten Zustand - so gut es geht - wiederherzustellen. Die zweite, sehr viel sinnvollere Lösung besteht darin, den neuen Zustand zu akzeptieren und nicht permanent dagegen anzukämpfen. Dieser Kampf ist nicht gegen eine Krankheit gerichtet, sondern gegen uns selbst und deshalb schädlich. An dieser Stelle möchten wir darauf hinweisen, dass Akzeptanz nicht bedeutet, etwas über sich ergehen zu lassen. Akzeptanz ist der Zustand, aus dem heraus wir Lösungen in Ruhe angehen und entwickeln können. Jede Verbesserung ist ein Zugewinn, eine positive Entwicklung und trägt zur Neujustierung unserer Empfindungen bei.

Unser Bemühen,den alten Zustand wiederherstellen zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt und kann daher niemals positiv sein. Denn eines ist im Moment noch klar: »MS ist unheilbar!«

 

Da das Körperempfinden womöglich einem sehr langen Veränderungsprozess unterliegt, ist die Herausforderung der Akzeptanz bzw. neudeutsch des Copings  eine lebenslange, fortwährende Aufgabe, der wir uns stellen sollten.

 

  1. Gibt es da keine Medikamente gegen Parästhesien?

An dieser Stelle verweisen wir auf den Beitrag Schmerzmedikamente.

Schmerz ist zwar keine Empfindungsstörung, da er normalerweise den Zweck erfüllt, uns zu signalisieren, dass etwas nicht stimmt und wir aufhören sollten mit dem, was wir gerade machen.  Da die Schmerzen bei MS wie Empfindungsstörungen durch Fehler in der Steuerung zustande kommen, werden Schmerzen und Empfindungsstörungen mit den gleichen Medikamenten behandelt. Hierzu nur noch folgende Anmerkung: Alle diese Medikamente können eine ganze Palette an Nebenwirkungen auslösen.

Ein anerkannter Mediziner unbekannterweise:

»Sie wissen doch, dass man mit dem Waschzettel den ganzen Flur tapezieren kann!«

 

  1. Tipps

Ablenkung ist die beste Medizin!

Versuche, die Situation möglichst positiv zu sehen, damit du dich anpassen kannst.

Meditation und Entspannungsübungen jeglicher Art helfen.

Wenn du dein Nervensystem neu kalibriert hast, werden die Missempfindungen mit der Zeit auch weniger.

Gehe auf jeden Fall zum Arzt, wenn die Parästhesien dauerhaft zunehmen.

Kurzzeitige Veränderungen können durch äußeren Stress sowie Kälte, Hitze, Wetterumstürze, usw. ausgelöst werden. In diesen Fällen Ruhe bewahren und abwarten.

Psychischer Stress ist unser größter Feind bei anhaltender Parästhesie.