Die ganz grosse Dosis

Nachdem ich mich beim letzten Treffen klammheimlich weggestohlen hatte, muss ich wohl heute Rede und Antwort
stehen. Habib hatte mich, als er vor der Toilette auftauchte, komplett aus dem Konzept gebracht und dann ging es ihm im
Gegensatz zu mir auch noch um MS.
Die MS verfolgt mich scheinbar auch außerhalb meines Körpers. Wie kam ich überhaupt auf die Idee, dass so ein
attraktiver Mensch keinen Partner hat. Ok, wir reden hier im Lokal über unsere Probleme, aber Habib sollte mit MS
nichts zu tun haben, so der Plan! Und dann fragt der mich wegen der MS seiner Freundin. Boah, da kriege ich echt ein‘en
Hals! Seit Thorsten mich verlassen hat, sind Männer wie eine außerirdische Spezies für mich. Alle haben ihn immer
gelobt. Dass er sich so toll um mich kümmert und so. Und ich blöde Kuh dachte, dass Liebe alles überwindet.
Was haben die bloß gedacht, als ich nach dem Toilettengang nur noch kurz Tschüss sagte und dann ging. Und der Kellner
ist wieder nur der Kellner.
Für Ausreden und andere unangenehme Gelegenheiten ist eine chronische Krankheit gut zu gebrauchen. So täuschte ich
beim letzten Mal vor den anderen eine plötzlich auftretende Müdigkeitsattacke vor. Das klappt immer!
Geht es dir wieder besser?
Wieso sollte es mir schlecht gehen?
Du sahst beim letzten Mal aus, als hätte es dir den Boden unter den Füßen weggerissen oder, als wäre dir ein Geist
erschienen!
Ach das! Zuhause ging es mir schon wieder gut.
Ob ich Almuth sagen soll, dass ich den Kellner klasse finde und der dann mit seiner MS-kranken Freundin um die Ecke
kam?
Der Kellner hat mich komplett durcheinandergebracht. Den finde ich richtig süß und dann steht der an der Toilette mit
einem Mal neben mir und fragt mich, ob er seine Freundin an uns vermitteln kann. Die hat auch MS.
Scheiße! Da wäre ich auch geflüchtet. Und was hast du geantwortet?
Gar nichts! Ich war total überrascht und bin wie ‘ne Zehnjährige mit roter Rübe davongeschlichen.
Wenn man vom Teufel spricht. Jetzt kommt Habib auf uns zu. Mit diesem Lächeln, dass sich schon unabänderlich mit
Grübchen in das Gesicht gemeißelt hat. Bin ich nervös!
Ich trinke nur ein Wasser heute!
Alle haben bestellt und jetzt guckt er mich mit seinen tiefbraunen Augen an. Mit möglichst neutraler Stimme bestelle ich
den Rucolasalat mit Balsamicoessig, gerösteten Pinienkernen und Parmesanspalten.
Und?
Wie und? Von mir aus kann deine Freundin gern mal zu uns kommen.
Eigentlich wollte ich die Getränke aufnehmen. Und überhaupt! Welche Freundin?
Du hattest mich doch gefragt, ob deine MS-kranke Freundin zu uns kommen kann!
Boah! Was ist das wieder für eine Scheiße? Was erzählt der da, jetzt weiß ich gar nichts mehr. Habe ich das etwa geträumt
beim letzten Mal?
Du meinst meine Schwester? Das wird sie hoffentlich freuen.
Wieso hoffentlich? Muss sie sich auf Freude erst vorbereiten?
Sie weiß noch nichts von ihrem Glück. Ich wollte herausfinden, ob es bei euch wirklich um MS geht und Nisa will
eigentlich mit niemandem reden. Ihr gehen die andauernden Fragen aus der Familie schon total auf die Nerven. Bei uns
sind die Familien viel anstrengender als deutsche Familien. Als sie die Diagnose im Krankenhaus bekam, hat unsere
gesamte Familie mit Onkeln und Tanten die Neurologie belagert. Nach zwei Tagen vermutete man schon, dass Nisa
verhungert, und brachte zweimal am Tag Essen ins Krankenhaus. Nisa fand es schrecklich. Die anderen auf der Station
freuten sich über den fantastischen Einblick in die arabische Küche.
Kann deine Schwester auch kochen? Dann nehmen wir sie auf jeden Fall bei uns auf. Ich wollte schon immer wissen, wie
arabische Küche original schmeckt.
Der scherzt nur, der Spinner! Natürlich kann Nisa gern kommen. Lock sie doch einfach hier in das Bistro. Den Rest
machen wir dann, wenn du uns vorher ein Foto zeigst.
Coole Idee!
Was ist bloß mit mir los? Wie konnte ich Schwester mit Freundin verwechseln. Das hört sich nicht einmal ähnlich an. Ich
könnte schwören, dass Habib von seiner Freundin gesprochen hat.
Das ist eine super Idee. Genau so werde ich es machen.
Ach ja, ich bin übrigens Halid.
Aha!
Da lag ich mit Habib schon nah dran. Die Schwester hatte ich mir ja ganz anders vorgestellt. Das liegt wohl daran, dass im
Moment das Fernsehen voll ist mit teil- bis vollvermumten Frauen, die für mich aussehen, als wären sie direkt aus dem
Mittelalter durch die Zeit geschlüpft in unsere Welt. Nisa dagegen trägt eine moderne Brille und Pagenschnitt statt Nikab
oder Kopftuch mit schwarzem Sackleinen.
Wie geht es dir eigentlich, Denise?
Scheiße! Ich habe eine zweite Serie von Kortisoninfusionen bekommen. Diesmal war es die ganz große Dosis. Dreimal
zwei Gramm und zweimal ein Gramm. Ich bin fix und alle. Augen unverändert schlecht. Das Korti war schlimmer als der
Schub. Ich bin frustriert und glaube nicht daran, dass diese Tortur irgendetwas gebracht hat. Ob ich das noch einmal
mitmache, halte ich im Moment für ausgeschlossen.
Meine Meinung zum Thema Kortison kennt ihr ja. Ich glaube nicht, dass Kortison irgendetwas bringt. Bei keinem! Es gibt
doch nicht eine Studie, in der bewiesen werden konnte, dass Kortison bei MS wirklich etwas bewirkt!
Moment! Man sollte nicht vergessen, dass es fast keine Studien zur Wirksamkeit von Kortison gibt. Wieso sollte ein
Pharmakonzern eine Studie für ein Medikament in Auftrag geben, mit dem man schon lange keine riesigen Gewinne
mehr abgreifen kann, weil die Patente ewig abgelaufen sind? Und Almuth, es ist nicht gerade fair, der Schulmedizin das
vorzuwerfen, was die euch vorwerfen. Nämlich, dass es keine Studien gibt.
Da hast du recht Gerald. Ich bin einfach total fertig nach den letzten Wochen und kann schon lange nicht mehr klar
denken.
Wie wäre es, wenn wir in so einem Fall unserem Arzt vertrauen? Wieso gehen wir denn alle gerade zu diesem Neuro?
Zumindest bei uns in der Gegend gibt es genug niedergelassene Neurologen. Almuth, kann das sein, dass du einfach
Schiss vor den Infusionen hast?
Äh, ich gehe dann mal wieder. Wenn ihr in zwei Wochen kommt, locke ich Nisa hier hin. Ich weiß schon wie.
Und was mache ich jetzt? Was bleibt mir denn oder soll ich weiter halb blind durch die Gegend eiern.
Denise ist verzweifelt. Sie schaut mit weit aufgerissenen Augen, die langsam glasig werden, fragend in die Runde. Sie
weint! So sieht Verzweiflung aus. Eine hässliche Seite unserer Krankheit, die manchmal viel schlimmer ist, als es ein
Symptom mit seinen Auswirkungen sein könnte. Und was sollen wir jetzt sagen. Ich nehme sie einfach mal in den Arm.
Manchmal gibt es nichts zu reden, da muss man jemanden trösten.
Eine Lösung für das Augenproblem gibt es noch: Plasmapherese!
Gehört habe ich den Ausdruck auch schon mal. Was ist das genau?
Blutwäsche, oder? Liege ich da richtig, Gerald?
Genau! Offenbar hilft das bei einigen MS-Betroffenen sehr gut. Man hat bei MS bestimmte Stoffe im Blut gefunden, die,
wenn sie durch die Bluthirnschranke wandern, die Myelinschicht der Nerven angreifen. Die Stoffe, Antikörper
(Eiweißstoffe), sollen uns eigentlich vor Eindringlingen wie Bakterien und Viren schützen. Nur in unserem Gehirn haben
die nichts zu suchen.
Manchmal bist du mir unheimlich, Spezi! Was du alles weißt!
Vielleicht redet er auch nur Müll!
Das ist das Schöne an unserer kleinen Runde. Wenn es zu ernst wird, haut irgendwer einen Spruch raus und dann kehrt
Entspannung ein. Ich glaube, ohne diese große Menge Galgenhumor wären wir alle aufgeschmissen.
Kann sein, Almuth! Jedenfalls ist das mit der Blutwäsche ganz simpel. Das Böse wird rausgefiltert und du bekommst
prima gereinigtes, gutes Blut - ohne böse Sachen drin - zurück und dann geht es dir besser.
Toll! Warum macht man das nicht gleich so? Dann könnte ich mir den Stress mit dem Kortison sparen, oder?
Klar! Als die ersten richtig guten Eskalationstherapien den MS-Markt stürmten, glaubte man, man könne nun jeden
MS-Betroffenen so behandeln. Nachdem die ersten Behandelten starben, war die Euphorie gebremst. Die Börsen
reagierten nervös auf die Vorfälle. Ja genau, Börsen können auch nervös werden, nicht nur MSler! Jedenfalls rauschte
nach dem Bekanntwerden, dass Natalizumab PML auslösen kann, die Aktie des Herstellers in den Keller.
Ich glaube, du schweifst ab, Spezi! Wie geht das nun mit der Blutwäsche? Die werden nicht nur so einen Minizugang in
meine Armbeuge machen. Dann liegst du mindestens zwei Tage da, bis alles aus dir rausgelaufen ist. Da hab‘ ich keinen
Bock drauf.
So kennen wir dich, Denise! Immer ein blöder Spruch.
Da muss natürlich ein etwas größerer Schlauch angeschlossen werden. Bei mir ist das noch nicht gemacht worden,
deshalb kann ich aus eigener Erfahrung nichts dazu sagen. Es soll bei Augenproblemen, die durch die
Kortisonbehandlung nicht weggehen, jedenfalls für bestimmte Betroffene eine super Alternative sein.
Und wer sind die »bestimmten« Betroffenen? Und wodurch unterscheiden die sich von den anderen?
Hm.
Versuch macht klug.
Klar! Ihr könnt schön abwarten, während man mir einen Gartenschlauch in eine Vene, die groß genug ist, schiebt! Ich
hoffe, man muss wenigstens zum Ausbluten nicht kopfüber unter der Decke hängen!
Du meinst, so wie Schweine beim Ausbluten im Schlachthof.
In diesem Moment greifen alle gleichzeitig zu ihren Getränken und jeder hat großes Kopfkino vor Augen. Einen Moment
ist es still. Man kann scherzen und mit skurrilen Vergleichen vom Thema ablenken, aber in diesen kurzen Momenten
schlägt die Ernsthaftigkeit einer Situation, der jeder von uns ausgeliefert sein kann, erbarmungslos zu. Da helfen keine
Scherze und kein Galgenhumor.
Habib ist also Halid. Ich bin zum Glück nicht in der Situation über eine Behandlungsmethode nachzudenken, vor der ich
eine riesen Angst habe. Die Pause, in der jeder an seinem Getränk nuckelt, ist lang. Sehr lang! Statistisch wird es für
einen von uns richtig mies werden mit der MS. Statistisch! Wenn es einen selbst erwischt, ist das egal. Das nennt man
dann wohl Pech. Zum Schluss kann jeder das tun, was ihm möglich ist. Den Rest übernimmt das Schicksal. Zum Glück
kennen wir unser Schicksal nicht.
Ich habe morgen einen Termin bei unserem Neuro. Dann werde ich ihn fragen, wie es weitergehen soll. Ihr habt mir sehr
geholfen. Unseren Stammtisch finde ich genial. Zuhause würde ich jetzt vor mich hingrübeln und von einer Panikattacke
in die nächste rauschen. Jetzt habe ich zumindest eine Möglichkeit vor Augen, aus der Misere herauszukommen. Das
nennt man wohl Hoffnung!
Oder positives Denken!
Genau!
Darin sind wir doch richtig gut, im positiven Denken!
Prost!