Das erste Treffen
Zum allerersten Stammtisch bin ich eine halbe Stunde vor dem vereinbarten Termin in die »Kupferkanne« gekommen. Dort soll nun in regelmäßigen Abständen ein Treffen unter Gleichgesinnten stattfinden. Ich bin unglaublich nervös. Bislang hatte ich noch keinen Kontakt mit anderen Betroffenen. Jedenfalls keinen, den ich bewusst wahrgenommen hätte. Um allen Eventualitäten vorzubeugen, habe ich einen Tisch reservieren lassen, der meiner Meinung nach behindigeeignet ist. Ich habe allerdings wenig Ahnung von den Bedürfnissen Behinderter. Ich habe ja nichts, jedenfalls merke ich nichts. Wer diejenigen wohl sind, die zugesagt haben? Nach alter Väter Sitte hatte ich einen Aushang im Wartezimmer meines Neurologen gemacht. Einfach ein Papierfähnchen abreißen und anrufen. Zu Zeiten von Twitter und Facebook etwas altbacken, aber effektiv, hoffte ich. Wenn ich nicht vergessen hätte, die eigene Telefonnummer auf die Abreißfähnchen zu schreiben, hätte diese Methode sicher noch besser funktioniert. In der Praxis des Neurologen, zu dem ich nun schon lange gehe, habe ich wahrscheinlich einige der Infrage kommenden MSler schon einmal gesehen, aber noch mit niemanden ein Wort gewechselt. Man spricht eben nicht in Wartezimmern. Um nicht ganz dumm da zu stehen, bin ich auf Nummer sicher gegangen und habe mir die Namen der neuen Stammtischteilnehmer auf einen Zettel geschrieben. Na ja! Es sind eigentlich nur zwei. Ein Zettel ist trotzdem besser! |
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Bist du Franziska? Dann bin ich hier ja richtig zum MS-Stammtisch. | |
Dann bist du sicher die Almuth. Ich bin Franziska. | |
Bei Almuth sieht man gar nichts. Man könnte meinen, die hat sich verlaufen. Anders sieht das bei Gerald aus, der gerade eintrifft. Verdammt! Der kommt mit Rollstuhl. Den habe ich in der Praxis noch nie gesehen. |
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Du musst Gerald sein! Vorerst bist du der einzige Mann in der Runde. Habt ihr gut hergefunden? Am besten wird es sein, wenn ich mich zuerst vorstelle. Franziska hatte sich so viele Gedanken gemacht, wie sie sich vorstellen soll; was sie sagen soll. Jetzt ist alles weg, wo der Augenblick gekommen ist. Ich bin die Franziska, bin 27 Jahre alt und noch nicht verheiratet. Mit meinem Freund Thorsten bin ich schon seit der Ausbildung zusammen. Bei mir wurde die MS vor zwei Jahren, da war ich gerade 25 Jahre alt, festgestellt. |
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Wie blöd! Natürlich war ich da 25. Die halten mich bestimmt für total beschränkt. | |
Begonnen hat das Ganze mit Seh- und Gefühlsstörungen. Seit kurzer Zeit nervt mich meine Blase. Mein Freund Thorsten steht zu mir. Von Beruf bin ich Bibliothekarin. Wegen meiner Augen habe ich schon ein bisschen Angst. Deshalb fahre ich auch sehr wenig mit dem Auto und wenn, dann nur kurze Strecken. Bislang habe ich außer Thorsten und meiner besten Freundin niemandem etwas gesagt. Meine Eltern wissen es auch. Und dann kam mir die Idee mit dem Stammtisch. Ich mache seit der Diagnosestellung eine Basistherapie. Trotz meiner bekloppten Spritzenphobie pikse ich mich jetzt selbst. Na ja, ihr wisst ja, dass unser Neuro jeden zu einer Basistherapie überredet. Das hat mich vielleicht Überwindung gekostet, mit dem Spritzen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das dann doch so lange hinbekomme. Hoffentlich hält unser Neuro den Stammtisch nicht für eine Verschwörung! Wenn er überhaupt davon erfährt! |
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Für einen Moment ist es still. Almuth und Gerald schauen sich an. | |
Ladies first! | |
Ok! Ich bin die Almuth, 29 Jahre jung, glücklich verheiratet und habe eine 5 Jahre alte Tochter. Die MS habe ich mir mit 26 Jahren eingefangen. Ich fühlte mich damals wie besoffen, habe alles doppelt gesehen und bin beim Joggen nach einer Stunde direkt in die Büsche abgebogen. Ich dachte natürlich sofort an Kreislaufprobleme; die Ärzte auch. Und so zog sich das endlos hin, bis ich endlich wusste, was mit mir los ist. Von diesem Nervenzeug habe ich vorher noch nie etwas gehört. Ich mache schon seit frühester Kindheit Sport. Und dann wollten die mir was von Kreislauf erzählen. Lächerlich! Mein Vater nahm mich mit fünf schon mit zum Judo. Später kam dann das Joggen dazu. Hätte ich mir ja eigentlich auch denken können, dass ich nichts mit dem Kreislauf habe. Der Sport hält mich fit und ich bin eigentlich beschwerdefrei. Im Krankenhaus wollten sie mir gleich Chemie andrehen. Das habe ich natürlich abgelehnt. Also mir geht’s auch ohne diesen ganzen Medikamentenkram gut. Bei mir beißt unser guter Neuro auf Granit. Ich hatte zwar zwischendurch mal einen Schub – glaube ich jedenfalls, ich bin ja nicht zum Arzt gegangen –, aber das ist alles wieder weggegangen. Meine Hobbys sind Tauchen, Kart fahren – wir haben ganz in der Nähe eine Kartbahn – und Tanzen. Ich habe den Zettel beim Neuro am schwarzen Brett gesehen. Der will mich alle drei Monate sehen, ich gehe aber nur alle 6 Monate hin. Ich dachte, hier lerne ich vielleicht nette Leute kennen. Ach den beknackten Namen habe ich von meiner Lieblingsoma geerbt. |
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Franziska hat das Gefühl, sie wäre ein komplettes Weichei, bei der Vorstellung von Almuth. Bei dem Vortrag gerade! Tauchen! Joggen! Kartbahn! Die scheint ja alles im Griff zu haben. Franziska kommt sich unerfahren und klein vor. |
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Mein Name ist Gerald Singert. Ich bin 32 Jahre alt und habe seit 4 Jahren MS. Seit zwei Jahren bin ich auf den Rollstuhl angewiesen; bei der Arbeit benutze ich ihn aber nicht. Ich arbeite als Bankangestellter in der Kreditorenabteilung und kann noch alles ganz gut erledigen. Jetzt, wo bei uns auch der Rotstift angesetzt wird, ist die Situation unsicher geworden. Wenn die einen raushaben wollen, dann schaffen die das auch, egal, ob man einen Behindertenausweis hat oder nicht. Dabei bin ich keinen Deut schlechter als die Kollegen! Das Rumrennen zum Drucker und in das Aktenlager ist anstrengend, aber noch geht es. Mich interessiert, wie andere damit umgehen, wie ihr im Job klarkommt und was ihr für Medis nehmt. Kann man eigentlich irgendwie noch eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen? Meine Spastik nimmt trotz Medikamenten stetig zu. |
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Gerald ist mir in der Neuropraxis natürlich aufgefallen. Bei einem Rollifahrer kann man schlecht auf MS schließen, der bewegt sich ja nicht! Jedenfalls nicht aufrecht. Irgendwie hatte ich gehofft, dass kein Rollifahrer zum Stammtisch kommt. Und dann auch noch ein Banker mit einem Stock im Arsch. Nein, so darf man nicht denken, wenn man einen Stammtisch gründen will. Außerdem muss ich da nun durch. Der erste Eindruck ist immer... |
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Hallo zusammen! Bin ich hier richtig beim Stammtisch? | |
Wer ist das denn? Die habe ich überhaupt nicht auf meinem Zettel! | |
Ich dachte, ich komme einfach mal vorbei, obwohl ich zu spät den Aushang gesehen habe. Ich bin die Denise. | |
Toll, dass du her gefunden hast. Wir haben uns schon vorgestellt. Jetzt sind wir schon vier! Das sind Gerald und Almuth und ich bin Franziska. |
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Denise macht einen sympathischen Eindruck. |
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Also! Ich bin 23 Jahre alt und schon ein paar Jährchen im Club. Seit 5 Jahren lebe ich wieder allein. Mein Mann hat sich vom Acker gemacht, als es mir richtig schlecht ging. Er meinte, er könnte das nicht ertragen. Irgendwie kann ich das auch verstehen. Wir sind jedenfalls im Guten auseinandergegangen. Ich arbeite in einer Apotheke, bin sozusagen an der Quelle. Das Stehen macht mir mehr und mehr zu schaffen. Meine MS ist im Moment einigermaßen ruhig, aber das war auch schon mal ganz anders. Bis jetzt konnte ich mich nicht durchringen, zu einer MS-Selbsthilfegruppe zu gehen. Als ich dann las, dass hier junge Leute aus unserer Neuro-Praxis gesucht werden, fand ich die Idee klasse und bin hier hin. |
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Dann bestell dir erst einmal was zu trinken. Ich dachte wir treffen uns zweimal im Monat. Jetzt sind wir noch so wenig, dass wir die Tage einfach bestimmen können. Ich schlage den ersten und den letzten Montag des Monats vor. |
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Sag mal, wie kommt man hier eigentlich auf die Toilette? | |
Diese Frage hatte ich schon befürchtet, aber in der Aufregung nicht mehr daran gedacht. | |
Ich hoffe, dass das für dich klappt mit der Toilette. Die ist hinter der Theke rechts. | |
Während Gerald, bevor er überhaupt etwas getrunken hat, schon auf dem Weg zur Toilette ist, beschäftigen wir uns mit der Speisekarte. Man hatte mir aus vertrauensvoller Quelle berichtet, dass es hier super italienisches Essen geben soll. Mit dem Essen ist das auch immer so eine Sache. Der eine isst gern dies, der andere mag das nicht. Jedenfalls soll man auch vegetarisch eine gute Auswahl haben in der Kupferkanne. Allen kann man es sowieso nicht recht machen. |
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Hat euch unser Neuro auch so zugequatscht, dass wir unbedingt eine Basistherapie machen sollen? | |
Ich spritze. Seit... |
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Also mich kriegen die nicht dazu, mir Nadeln in den Körper zu stecken! | |
Boah! Die ist ja ganz schön krass drauf. Sie lässt mich nicht einmal ausreden. Wenn das mal nicht ein Problem wird. Und das am ersten Tag. |
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Die Spritzerei ist doch das kleinste Übel. Ok, die Nebenwirkungen können unangenehm werden, aber die haben ja nichts mit dem Spritzen zu tun. Die hast du auch, wenn du 'ne Pille einwirfst. Jedenfalls, wenn der Wirkstoff Nebenwirkungen macht. |
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Gibt es überhaupt etwas, das keine Nebenwirkungen macht? | |
Das war wohl das, was man eine rhetorische Frage nennt. Jedenfalls hat sich das erste Treffen gleich in die Richtung entwickelt, die ich eigentlich vermeiden wollte. Alle reden sofort über MS und nicht darüber, ob wir die richtige Kneipe gefunden haben. |
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Wie lange bist du denn schon, … sitzt du, … bist du so …? | |
Du meinst, wie lange ich den Rolli habe? Also... | |
Wollen wir nicht erstmal darüber sprechen, ob wir uns hier weiterhin treffen wollen, wann und wie oft? | |
Nach kurzem Hin und Her sind wir uns einig. Wir treffen uns immer am ersten und dritten Dienstag im Monat. Dienstag ist ein Tag, da ist in Kneipen nicht so viel los. Und anders als bei anderen Stammtischen haben wir uns vorgenommen, immer ein Motto für den Abend festzulegen. Na ja, ob das klappt, wird man sehen. Und wenn jemand was Wichtiges hat, hat das natürlich Vorrang. Ich bin jedenfalls beruhigt, denn der Abend läuft richtig gut. Und wir müssen uns natürlich erst richtig kennenlernen. |